Kristine Bilkau

 

Gedankenräume

 

 

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Meer und Himmel ließen sich nicht unterscheiden, nur daß das Meer leicht gefältelt war wie ein zerknittertes Tuch. Allmählich, während der Himmel weiß wurde, erstreckte sich eine dunkle Linie am Horizont, die das Meer vom Himmel trennte, und das graue Tuch wurde von dicken Streifen durchzogen, die sich, einer nach dem anderen, unter der Oberfläche bewegten, einander folgend, einander jagend, immerzu.

 

Mit diesen Zeilen beginnt Virginia Woolfs Roman Die Wellen, und es ist, als würde Woolf die Ocean-Bilder von Miwa Ogasawara beschreiben – und umgekehrt, betrachte ich diese Bilder, auf denen das Meer den Himmel berührt und die Wellen mit ihren feinen Konturen sich fast zu bewegen scheinen, bringen sie Woolfs Worte noch einmal zum Klingen, geben ihnen einen Resonanzraum, einen Gedankenraum, der sich weitet und weitet. Malen ist wie Schreiben, Schreiben ist wie Malen, beides ein Prozess, durch den wir – mit unseren Mitteln – den Augenblick, in all seiner Komplexität, Brüchigkeit und Größe, festzuhalten versuchen. Das ist die Frage, um die ich während meiner Arbeit als Schriftstellerin durchweg kreise, selbst wenn ich sie mir nicht ständig ins Bewusstsein rufe: Wie findet man Ausdruck für eine Gegenwart, die immer auch durchwoben ist von Erinnerungen, Hoffnungen und Wünschen, einer Ahnung von Verlust und Vergänglichkeit?

»Mach dir keine Sorgen. Du wirst den Reichtum deiner Gedanken haben«, sagte meine Mutter zu mir, in einem unserer letzten Gespräche. Damals ging sie nur noch selten vor die Tür, ihr Herz war zu geschwächt. Ich machte mir Sorgen und spürte eine leise Trauer, sie schien mir wie abgeschnitten von der Welt. In unserem Gespräch fragte ich sie: »Wie fühlt es sich an? Sag es ehrlich, wie fühlt es sich Tag für Tag an, wenn der Handlungsradius so klein geworden ist?« Ich fürchtete mich vor dem Alter, vor der Einsamkeit. Doch ihre Antwort gab mir Zuversicht. Wer reich an Gedanken ist, lebt wie auf einer Insel, auf der es immer genug Nahrung und Wasser gibt. Wer reich an Gedanken ist, besitzt eine große, innere, sich immer wieder erneuernde Welt, die alles in sich trägt, das Schöne, das Traurige, das Geheimnisvolle, das Flüchtige, das Bleibende.

 

Auf wundersame Weise verbinden sich die Worte meiner Mutter mit den Bildern von Miwa Ogasawara, denn in ihren Bildern finde ich sie wieder, diese weitläufigen Gedankenräume: der Blick hoch in einen unruhigen Wolkenhimmel, darin Vögel, von denen sich einige im Grau verlieren. Regentropfen, in denen sich das Licht fängt. Schäumende Wellen, die sich an einem Strand brechen. Eine diffuse Landschaft, wie sie an uns während einer Bahnfahrt vorbeizieht, die Sonne steht tief am Himmel, ein Tag neigt sich seinem Ende zu – oder er bricht gerade an. Miwa Ogasawaras Bilder erzählen davon, wie vielschichtig ein einziger Moment sein kann, ein Augenblick, in den alles hineinfließt, unsere Empfindungen und Erwartungen, unsere Erinnerungen. »The moment was all; the moment was enough«, schreibt Virginia Woolf in Die Wellen. Alles zählt, jedes Detail, jede Kleinigkeit kann leuchten und von Bedeutung sein, durch unsere Betrachtung.

 

Miwa Ogasawaras Bilder sind von einer besonderen Stille, sie erzählen vom Innehalten, doch zugleich lassen sie die flirrenden Eindrücke der unmittelbaren Gegenwart lebendig werden. Selbst das hohe Tempo, in welchem der Takt unserer heutigen Welt schlägt, ist spürbar. Ich betrachte das Bild einer an mir vorbeiziehenden Landschaft mit den feinen Umrissen der Bäume und dem schwachen Licht einer wintermüden Sonne zwischen den Wolkenmassen, und ich erkenne darin beides, die Geschwindigkeit der hochtechnisierten Welt und die ruhig fließende, nach innen gerichtete Wahrnehmung, für die eine Fahrt in einem Zugabteil Raum bietet. Der Begriff Wachträumen kommt mir in den Sinn, für das Zusammenspiel, mittendrin zu sein und sich zugleich wie außerhalb zu fühlen. Auch wenn Menschen auf diesen Bildern nicht zu sehen sind, lässt Miwa Ogasawara ihre Anwesenheit spürbar werden. Gedanken, Empfindungen und Sehnsüchte kommen zum Ausdruck, und auf einmal wird begreifbar: Ein einziger Moment der Wahrnehmung dreht sich immer auch ums Ganze, um unser Dasein, um uns, die wir lieben, geliebt werden, uns verloren oder aufgehoben fühlen.

Nun war die Sonne untergegangen. Himmel und Meer waren einander nicht zu unterscheiden. Die sich brechenden Wellen breiteten ihre weißen Fächer weit über das Ufer, sandten weiße Schatten in die Vertiefungen klangvoller Höhlen und rollten dann seufzend den Kieselstrand zurück.

 

Als ich einige Wochen nachdem meine Mutter verstorben war, in ihrem Wohnzimmer saß, auf ihrem Sofa, hörte ich ihre Musik und las in ihren Büchern. Ich fühlte mich aufgehoben und ich begann zu verstehen, was sie im Gespräch über ihre Gedankenwelten gemeint hatte. Die gelebten Jahre, der Vorrat an Eindrücken und Erinnerungen, das zusammen gab ihr das Gefühl, mit allem da draußen verbunden zu sein. Ob wir am Meer stehen und den Bewegungen der Wellen zuschauen, die keinen Anfang und kein Ende haben, oder ob wir es uns vorstellen, dieses Meer, und uns an einen bestimmten Tag erinnern, dort, an der Brandung, oder ob wir ein Kunstwerk betrachten, das alle Eindrücke wachruft – die Übergänge sind fließend. Der Philosoph, Psychologe und Harvard-Professor William James schrieb gegen Ende des 19. Jahrhunderts über die Lebensnotwendigkeit von Resonanz: Wir bräuchten es, wie die Luft zum Atmen, dass wir von einer anderen Person gesehen, gehört und erkannt werden. James beschäftigte sich dabei vor allem mit unseren sozialen Bindungen, doch die Idee von Resonanz, das wissen wir alle, lässt sich auch weiter denken, sie kann für die Malerei, Musik, Literatur, für jegliche Art von Kunst gelten. So wie die Leserin und der Leser einen Roman zum Leben wecken, durch ihre Wahrnehmung, so weckt auch die Betrachterin oder der Betrachter ein Bild zum Leben. Und anders herum, rührt das Bild an etwas in uns, das verborgen oder vergessen war. Ich kann mich nicht nur von einem anderen Menschen erkannt und getröstet fühlen, sondern auch von einem Kunstwerk.

 

Wenn ich Miwa Ogasawaras Reihe Weltbild ansehe, blicke ich in die Weite des Universums, das erfüllt ist von Lichtern, von Sternen, schimmernd und unerreichbar. Dabei fühle ich mich an die unüberwindbare Isoliertheit erinnert, die jeder von uns in sich trägt. Eine Form der Einsamkeit, die in den ersten Lebensmonaten in der Abgeschiedenheit einer Fruchtblase beginnt und in dem unaufhaltsam enger werdenden Handlungsradius des Alterns und Sterbens endet. Ein Zustand, der zu unserem Menschsein, zu unserem Dasein gehört. Ich betrachte die verschwommenen Lichter und sehe, dass wir selbst wie diese Lichter sind, wir driften aufeinander zu, bewegen uns voneinander weg, kreisen umeinander, berühren uns kurz, und doch bleibt jeder für sich. Miwa Ogasawaras Bilder lassen den Raum, der sich zwischen zwei Menschen befindet, sichtbar werden; der Ort zwischen dir und mir.

»Weshalb ich schreibe, weshalb ich lebe, fällt ja zusammen. Weil ich herausfinden will, was ich hier soll. Auf diesem seltsamen Planeten«, so die Dichterin Sarah Kirsch. Was ist es, das uns trägt, das uns in Bewegung hält? Ich glaube, es ist die unablässige Suche und Sehnsucht nach Verbundenheit, oder, wie William James schrieb, das Bedürfnis nach Resonanz. Und, davon bin ich überzeugt, die unerschöpfliche Hoffnung auf Resonanz. Eine Hoffnung, die sich immer aufs Neue erfüllen kann. Auch für eine herzschwache Frau, die nicht mehr vor die Tür gehen kann. Durch Menschen, die wir lieben; durch die Sprache einer Dichterin, die etwas in uns zum Klingen bringt; durch ein Bild von Miwa Ogasawara, das die brüchige, flirrende Gegenwart einfängt, die Schönheit und Zerbrechlichkeit unseres Daseins. Das Bild ist mein Gedankenraum.

 

 

© Kristine Bilkau