Lob des Schattens
Einzelausstellung, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin

Eröffnungsrede von Dr. Hans-Jörg Clement

 

Es ist für mich eine große, große Freude, heute diese Ausstellung mit Arbeiten von Miwa Ogasawara zu eröffnen, ihre erste große Präsentation in Berlin. Es ist eine Ausstellung, die in jeder Hinsicht als eine reiche Ausstellung zu bezeichnen ist. Sie ist umfangreich – wir zeigen 18 Exponate –, reich an malerischem Können, reich an kompositorischer Virtuosität, reich an intellektueller Tiefe und Reflexion und sie ist reich an Farbe – auch wenn Miwa Ogasawara postuliert, dass die Farbe ihren Bildern entzogen ist. Das Spektrum an Grau und Schwarz, an diesen endlosen Nuancen, die unergründliche Tiefen kreieren, ist so uferlos, dass man sich darin verlieren könnte. Die Vokabeln Verlieren oder Verlust stimmen aber nur dann, wenn man spürt, dass man im Moment des sich Verlierens ganz bei sich ist. Und damit sind wir schon mitten drin, in dem, was diese Malerei hervorbringt und was sie beim Betrachter auslöst. Sie trifft uns.

 

Es ist natürlich kein Zufall, dass in unserer Reihe der großen Einzelausstellungen, die wir immer als Schlussakkord unseres Kulturjahres setzen, Miwa Ogasawara der Soloschau von Ruprecht von Kaufmann, die wir im November des Vorjahres zeigen durften, heute hier folgt. Bei ihm haben wir – in ganz anderen formalen Auflösungen – schon vom Schwarz gesprochen, von den Bewegungen in dieser dunklen Masse, von Übergängen, Grenzsituationen, Transgressionen und Transformationen, von Verwandlungen. Es gibt ganz wunderbare Parallelen zwischen diesen beiden Ausstellungen und – natürlich – ganz gravierende Unterschiede.

 

Die heutige Ausstellung führt die Idee der Übergänge und Transformationen fort, - und trotz der vermeintlichen Farblosigkeit – auch hier nicht schwer, häufig dunkel, aber nicht düster, nicht bedrückend, sondern in einer existenziellen Dichte, die eine Leichtigkeit suggeriert, die nur aus einer Zwischenwelt stammen kann; einer Zwischenwelt, in der man ganz kurz, aber sehr klar und präzise und gegebenenfalls lebensverändernd seine Mitte findet. Sie verflüchtigt sich wieder, aber ein Hauch dieser Welt bleibt, ein Schatten. Und der Schatten kann bekanntlich nur dort werfen und entwerfen, wo es das Licht gibt.

Sprich auch du, sprich als letzter, sag deinen Spruch.

 

Sprich –
Doch scheide das Nein nicht vom Ja. Gib deinem Spruch auch den Sinn: Gib ihm den Schatten.

(...)

Nun aber schrumpft der Ort, wo du stehst: Wohin jetzt, Schattenentblößter, wohin? Steige. Taste empor.
Dünner wirst du, unkenntlicher, feiner!

(...)

Schattenentblößte
Zieh den Wolken voran
Um unten zu schwimmen
Da siehst du dich schimmern In deinen Farben

(...)

 

Diese Zeilen stammen von Paul Celan, geschrieben in den fünfziger Jahren. „Sprich auch Du“ heißt das Gedicht, dem sie entnommen sind. Es scheint so, als hätte Celan die Zeilen für Miwa Ogasawara geschrieben oder als hätte Miwa Ogasawara diese Zeilen in ihrem Atelier als Credo plakatiert, um bei jedem Pinselstrich an sie gemahnt zu werden. Aber nichts von alle dem: Als Miwa Ogasawara 1973 in Kyoto geboren wird, ist Celan schon drei Jahre tot, nach einem schmerzvollen Leben, das einer gänzlich anderen Kultur entstammte, aus einer Welt, in der er nicht mehr leben konnte.

 

Das Werk von Paul Celan ist bislang für Miwa kein Bezugspunkt gewesen und doch gibt es eine erstaunliche Nähe, die ich gerade zu als bewegend empfinde. Hier – im Oeuvre von Miwa Ogasawara - wird eine Ästhetik, um nicht zu sagen eine Philosophie des Schattens entworfen, die so beiläufig und leichtfüßig (und dabei so ernsthaft!) daher kommt wie der Schatten selbst.

 

Der Schatten markiert vor allem immer ein Zwischenreich, ein ambivalentes Stadium. Diese Ambivalenz ist ein wesentliches Merkmal der Arbeiten, die wir heute sehen. In einem Interview, das ich mit Miwa Ogasawara geführt habe, hat die Künstlerin gesagt:

 

Auf der Verschiebung zwischen Wahrheit und Wirklichkeit basiert meine Arbeit und sie ist immer von den in der Sache begründeten Widersprüchen geprägt. Ja, ohne Schatten ist der Mensch seelenlosBei mir endet die Suche nach der Klarheit immer in einer diffusen Zone, in der Ambivalenz.

 

Schöner lässt sich eigentlich intellektuelle Dichte und die an sich selbst gestellte Herausforderung, sich auf einen Weg der zunehmenden Verfeinerung zu begeben, kaum ansprechen. Es geht - wenn man so will und im Vokabular des Lichts bleiben möchte - um Trennschärfen, die eben wegen ihrer filigransten Feinstofflichkeit keine harten Linien sein können, sondern sich in einem sphärischen Nebel auflösen. Großartig, wie das hier gelingt, ohne auch nur an einer Stelle in Gefühligkeit oder Sentimentalität abzurutschen. Dafür ist in diesem Werk kein Platz, denn was bei aller vermittelten Ruhe hier entsteht, ist natürlich auch eine ungeheure Spannung, die nicht zuletzt daraus resultiert, dass hier kräftig an unterbewussten Schichten gekratzt wird. Im Kontext der eigenen Ästhetik verweist Miwa Oagasawara interessanterweise auf Alfred Hitchcock, dem Meister der suspense, der Spannung, die durch das wiederholte Aufbegehren des Unterbewussten entsteht, die traumartige – manchmal auch traumatische – Situationen kreiert: Spannungsräume eben.

 

Die Spannungsräume, die Entfaltungsräume, die Lebensräume sind bei Miwa Ogasawara häufig auch tatsächliche Räume, Architektur. Lob des Schattens haben wir die Ausstellung genannt und zitieren damit den Titel einer Ästhetik des Philosophen und Schriftstellers Tanizaki Jun’ichirô. Der endlich wiederentdeckte Essay aus den dreißiger Jahren begründet die Bedeutung des Zusammenspiels von Licht und Schatten – einem Spiel, einem Wunder, das viel entscheidender ist, als das tatsächliche Objekt oder die Figur, die den Schatten werfen. Bei Tanizaki ist die gesamte japanische Architektur als Lebensraum durch den Schatten, durch das gedämmte Licht, die zahllosen, unterschiedlichen Grautönen geprägt.

Ein solches ästhetisches Empfinden setzt sich in alle Lebensbereiche fort, bis hin zur Farbe einer Suppenschale, deren Innenwände der Speise eine besondere Aura verleihen. Anmutung als Lebenshaltung. Der Schatten sensibilisiert. Er fordert und schult die Sinne.

 

Licht, Schatten, Bewegung und Proportion, das sind die sehr präzise umgesetzten Kriterien der Malerei von Miwa Ogasawara. Interessanterweise antwortet Miwa auf die Frage, was ihr zum Begriff Proportion einfällt: Die Schönheit der Natur. Dass sie so antwortet ist kein Wunder, denn die Proportion der Natur bleibt für uns immer wieder ein Erlebnis des Vollkommenen. Vollendete Proportion ist vollendete Schönheit, der Moment, in dem das Auge durch nichts mehr gestört wird und den Blick nicht mehr nach außen richtet, sondern nach innen zurück wirft.

 

In der unberührten Natur hat Miwa Ogasawara ihre Kinderjahre verbracht, dort wo ihre gesellschaftspolitisch bewegten und pädagogisch arbeitenden Eltern ein Institut für die frühkindliche und jugendliche Erziehung in einem Wald errichteten. Miwa Ogasawara hat schon mit 15 Jahren das Land verlassen, studierte an unterschiedlichen Orten, bis sie in Hamburg ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt fand. Sie ist eine Kosmopolitin, eine begierig Lernende und zum Staunen fähige – was bekanntlich seit den Griechen die Voraussetzung für das Lernen ist -, sie saugt auf, nun auch die eigenen Traditionen, die als überkommen abgestreift wurden, jetzt aber in ihrer Relevanz neu entdeckt werden. Meine Malerei verschlingt die reale Welt und spuckt ihre eigene Wirklichkeit aus, sagt sie.

 

Die reale Welt, das sind für die Künstlerin auch die vielen Begegnungen mit der Literatur und vor allem auch der Musik. Ohne Musik im Atelier zu arbeiten, scheint ihr fast unvorstellbar und so erstaunt es nicht, dass ihre Arbeiten eine klangliche Dimension haben und aus diesem Grund sind wir glücklich, dass wir der Künstlerin diese Klanginstallation als Komposition von Johannes S. Sistermanns schenken dürfen.

 

Auch die Liebe zur Literatur ist eine besondere: Wenn ich mich in Sprache ausdrücken könnte, würde ich nie eine abgeschlossene Geschichte schreiben können, sondern viele kurze oder lange GedichteDas ist sehr klug beobachtet, denn den Arbeiten von Miwa Ogasawara fehlt gänzlich eine erzählerische Dimension, poetisch aufgeladen aber sind sie allemal. Doch es geht eben nicht um Geschichten und schon gar nicht um autobiographische, sondern es geht um Zustände, um Verfassungen. Die Titel der Arbeiten lassen diese Befindlichkeiten - und das heißt eben: die Momente, in denen man sich findet – erahnen. Floating, Windhauch, Räumlichkeit, Zwischen. Es sind Szenerien außerhalb der Zeit, einer in sich selbst kreierten Emulsion aus Erinnerung und Projektion, eine bewegte und bewegende Verdichtung.

 

Wir sehen eine Ausstellung mit Arbeiten von höchster Präzision, filigransten formalen und inhaltlichen Nuancierungen; Arbeiten, die in ihren Raum- und Zeitansichten Raum füllen und uns anziehen; magisch. Die Ausstellung ist in drei Gruppen aufgeteilt: Menschen/Figuren, Natur, Architektur. Alle hauchen gleichermaßen eine Schattenwelt, die uns fragt, wer wir sind und die uns in eine Art des vollkommenen Stillstands versetzt, so als gäbe es die Empfindung eines ursprünglich und endlich gemeinten Zustandes:

 

Ein Garten, der das Geheimnis in sich trägt, ob man aus ihm kommt oder in ihn geht, eine Landschaft in einem Licht, das verschwindet oder gerade entsteht, eine Figur auf einem Weg in das Dunkle oder aus dem Dunklen heraus, ein Windhauch an einem Fenster, der die Trennung zwischen innen und außen aufzulösen scheint, zwei Vögel, von denen der zweite auch der Schatten des ersten sein könnte, im Blaugrau Treibende, die sich in den sanften Bewegungen des Wassers auflösen, konkrete Architekturen, die sich in abstrakte Formen umstrukturieren. Das alles, was wir da sehen, sehen wir und sehen doch am Ende uns selbst – Introspektion. Miwa Ogasawara – ich habe es gesagt – trifft uns. Und in dieses getroffene Innere schauen wir hinein und erkennen: Wir und die Welt sind ein Kontinuum aus Werden und Vergehen, Vergehen und Werden.

 

Der Bundestagspräsident hat hier gestern Abend im Rahmen einer Soirée, die wir anlässlich seines 60. Geburtstages gestaltet haben und die quasi das Pre-Opening Deiner Ausstellung war, Marcel Proust zitiert, der gesagt hat, dass die Kunst dem Leben überlegen sei.