Kristine Bilkau
Gegenüber, Du, Ich
Komm, lass uns noch ein bisschen durch die Straßen fahren. – Eine Bekannte von mir, sie war schon etwas betagter und konnte nicht mehr so gut laufen, liebte es, neben ihrem Mann im Auto zu sitzen und aus der Dunkelheit heraus auf die Häuser der Stadt, auf die hellen Fenster zu schauen. Hin und wieder wünschte sie sich diese kleine Tour durch die Straßen. Ihren Wunsch kann ich gut verstehen. Das Licht in fremden Fenstern übt eine Anziehungskraft aus, die über das bloße Schauen und Flanieren hinausgeht. Die Lichtquadrate sind wie kleine Bühnen des täglichen Lebens; eine Kerze auf einer Fensterbank, eine offene Schiebetür, hinter der ein weiterer Raum zu sehen ist, die geschlossenen Vorhänge eines Zimmers, in dem vielleicht ein Kind schläft. Wenn ich hoch zu den Fenstern blicke, löst das in mir jedes Mal ein wohliges Gefühl von Geborgenheit aus. Ich sehe Vertrautes und finde mich darin wieder. Oder, wie die Dichterin Sarah Kirsch in ihrer Prosa-Miniatur Lichtzeichen über einen nächtlichen Spaziergang schreibt: Wir kehrten nach Hause zurück, sahen hinter dem erleuchteten Fenster uns am Holztisch sitzen.1 Zugleich ist mein Betrachten auch eine Suchbewegung, getrieben von einer diffusen Melancholie, die sich nie abschütteln lässt. Versuche ich diese Melancholie zu deuten, würde ich sie als eine unstillbare Sehnsucht nach Verbundenheit bezeichnen; Verbundenheit, mit was, mit wem? Mit meiner Umgebung, mit anderen Menschen, mit einem imaginären Gegenüber.
Wie komme ich auf das Licht in den Fenstern fremder Menschen, wenn ich über die Bilder von Miwa Ogasawara nachdenke? Es hat mit diesen Suchbewegungen zu tun. Miwa Ogasawaras Bilder sind für mich weitläufige Erzählräume, in denen meine Suche nach Verbundenheit sich fortsetzt und verdichtet. Ihre Bilder erzählen mir von den vielschichtigen Empfindungen, die während eines flüchtigen Moments kulminieren. Momente, die sich in scheinbarer Beiläufigkeit ums Ganze drehen, um unser Dasein, um uns, die wir lieben, geliebt werden, uns geborgen oder einsam fühlen. Wände, auf die sanft das Licht fällt. Offene Türen, die in weitere, helle Räume führen. Regentropfen, in denen sich etwas Licht fängt. Der Blick in einen wolkigen, unruhigen Himmel, Vögel, einige davon verlieren sich fast im Grau. Die verschwommene Landschaft, wie sie an mir während einer Bahnfahrt vorbeizieht, die Sonne steht tief am Himmel. Obwohl Menschen auf diesen Bildern nicht zu sehen sind, ist ihre Gegenwart für mich spürbar.
Die Frage, um die ich während meiner Arbeit als Schriftstellerin durchweg kreise, selbst wenn ich sie mir nicht ständig ins Bewusstsein rufe: Wie findet man Ausdruck für eine Gegenwart, die immer auch durchwoben ist von Gedanken und Erinnerungen, Hoffnungen und Wünschen, einer Ahnung von Verlust und Vergänglichkeit? Wenn es um die Literatur geht, ist für mich eines der glänzenden Beispiele Mrs Dalloway, die durch die Straßen Londons geht, deren Schöpferin Virginia Woolf es schaffte auszudrücken, wie überbordend dicht, vielschichtig und voller Widersprüche ein einziger Moment der Wahrnehmung sein kann. In den Augen der Menschen, in all dem Schwanken, Stapfen und Schlurfen; dem Gebrüll und Getöse; den Kutschen, Automobilen, Omnibussen, Lieferwagen, den schlurfenden und schwankenden Plakatträgern; Blaskapellen; Lederkästen; dem Triumph, dem Gebimmel und dem sonderbar hohen Singen eines Flugzeugs am Himmel war, was sie liebte: Leben (...); dieser Augenblick im Juni.2 – Um im nächsten Moment das Gefühl der Zugehörigkeit wieder zu verlieren: Sie fühlte sich sehr jung; gleichzeitig unsäglich gealtert. Sie durchschnitt alles wie ein Messer; stand gleichzeitig außerhalb, schaute zu. Als sie die Droschken beobachtete, hatte sie das beständige Empfinden, draußen zu sein, draußen, weit draußen auf hoher See und allein. (...)3
Miwa Ogasawaras Bilder sind von einer besonderen Stille. Sie fangen Momente des Innehaltens ein und lassen zugleich die unzähligen flirrenden Eindrücke, Empfindungen und Gedanken, aus denen die unmittelbare Gegenwart gemacht ist, lebendig werden. Selbst das gnadenlose Tempo, in welchem der Takt unserer heutigen Welt schlägt, ist spürbar. Ich betrachte das Bild einer an mir vorbeiziehenden Landschaft mit den feinen Umrissen der Bäume und dem schwachen Licht einer wintermüden Sonne zwischen den Wolkenmassen, und ich erkenne darin beides, die Geschwindigkeit der hochtechnisierten Welt und die ruhig fließende, nach innen gerichtete Wahrnehmung, für die eine Fahrt in einem Zugabteil Raum bietet. Der Begriff wachträumen kommt mir in den Sinn, für das, was unser Dasein bestimmt: für das verwirrende Zusammenspiel, mittendrin und doch außerhalb zu sein.
Der amerikanische Philosoph und Psychologe William James sagte, es sei lebensnotwendig für jeden von uns, dass unsere Existenz Resonanz bekommt. Wir brauchen es, wie die Luft zum Atmen oder das Wasser zum Trinken, dass wir von jemandem gesehen, gehört und erkannt werden. James bezog sich auf unsere sozialen Bindungen, doch die Idee von Resonanz, das wissen wir alle, gilt besonders auch für die Malerei, Musik, Literatur, für jegliche Art von Kunst. So wie die Leserin und der Leser einen Roman zum Leben wecken, durch ihre Wahrnehmung, die aus Empfindungen, aus Erinnerungen und Erwartungen gemacht ist, so weckt auch die Betrachterin oder der Betrachter ein Bild zum Leben. Und anders herum, rührt das Bild an etwas in uns, das verborgen oder schlummernd gewesen ist. Ich kann mich nicht nur von einem anderen Menschen erkannt und getröstet fühlen, sondern auch von einem Kunstwerk.
Wenn ich Miwa Ogasawaras Reihe Weltbild ansehe, in die Weite des Universums blicke, das erfüllt ist von Lichtern, von Sternen, schimmernd und unerreichbar, fühle ich mich an die unüberwindbare Isoliertheit erinnert, die jeder von uns in sich trägt. Eine Form der Einsamkeit, die in den ersten Lebensmonaten in der Abgeschiedenheit einer Fruchtblase beginnt und in dem unaufhaltsam enger werdenden Handlungsradius des Alterns und Sterbens endet. Ich betrachte die verschwommenen Lichter und sehe, dass wir selbst wie diese Lichter sind, nah beieinander, umeinander kreisend, und doch jeder für sich. Miwa Ogasawaras Bilder lassen den Raum, der zwischen zwei Menschen liegt, sichtbar werden; der Ort zwischen dir und mir.
Weshalb ich schreibe, weshalb ich lebe, fällt ja zusammen. Weil ich herausfinden will, was ich hier soll. Auf diesem seltsamen Planeten, schrieb Sarah Kirsch.4 Was ist es, das uns trägt, das uns in Bewegung hält? Vielleicht ist es diese unablässige Suche und Sehnsucht nach Verbundenheit, oder, wie William James sagen würde, das Bedürfnis nach Resonanz. Und, wie ich ergänzen würde, die unerschöpfliche Hoffnung auf Resonanz. Eine Hoffnung, die sich durch viele unterschiedliche Einflüsse immer wieder erfüllen kann. Durch Menschen, die wir lieben; durch die Sprache einer Dichterin, die etwas in uns zum Klingen bringt; durch ein Bild von Miwa Ogasawara, das die brüchige, flirrende Gegenwart einfängt, die Schönheit und Zerbrechlichkeit unseres Daseins.
Das Bild selbst ist mein Gegenüber.
1: Sarah Kirsch, Kommt der Schnee im Sturm geflogen, München: DVA 2005, S.. 12. 2: Virginia Woolf, Mrs Dalloway, Stuttgart 2012, S. 7. 3: Ebd., S. 12. 4: Kirsch 2005, S. 14.