Sayako Mizuta 

 

Von der Erkenntnis einer unbestimmten raumzeitlichen Illusion

 

Was ist auf dem Bild Kowaremono (Zerbrechlichkeit) zu sehen? Ist es ein flirrender Vorhang oder das Dazwischen zwischen Haut und Kleidungsstück? Nicht nur der Titel bleibt rätselhaft, ich bin mir auch nicht sicher, von welchem Standpunkt aus ich das Bild betrachte. Stehe ich außen vor einem Gebäude, in dem ich innen die leichten Bewegungen eines Organdy-Stoffes sehe? Oder befinde ich mich an einem sicheren Ort im Raum und befühle, um Gewissheit zu erlangen, das weiche Gewebe? So wie der Titel suggeriert, ist auf dem Bild etwas Zerbrechliches und Fragiles dargestellt, aber ich sehe auch das Zarte und Flüchtige, seine Geschmeidigkeit und seinen inneren Reichtum.

 

Miwa Ogasawara malt farblich dezente Ölbilder mit schwer zu fassenden Motiven wie Licht, Schatten, Wind und Luft. Es sind immer wiederkehrende Darstellungen von Innenräumen, Gefäßen, Glaskugeln und Kindern, jungen Körpern sowie Baum- und Uferlandschaften. Diese Bilder existieren still in einer unbestimmten Zeit, wo Tag und Nacht sich mischen, an irgendwelchen universellen Orten. Die Illusion dieser nicht näher bestimmbaren Zeit-Räume weckt Assoziationen und Erinnerungen an solche Räume: an das mit geliebten Dingen vollgestellte Kinderzimmer; an Orte, an die man sich allein zurückzieht, wenn etwas Unangenehmes vorgefallen ist; an das Bett, in dem wir leise vor uns hin weinen; an den Haifischbauch, in dem Pinocchio umherirrt, oder an das unterirdische Zimmer, in dem Nick Bowen sich eingeschlossen hat. Es sind Orte, die eine Verbindung von hier nach irgendwo schlagen, einem Wartezimmer ähnlich, von dem aus es zur nächsten Station geht. In Wartezimmern fließt die Zeit nicht von der Vergangenheit zur Zukunft hin, in ihnen herrscht eine subjektive Zeit. Es sind sorgfältig gemalte Orte, denen wir für gewöhnlich keine Beachtung schenken, deren Bedeutung wir uns aber endlich bewusst werden. Mutig rettet Pinocchio sich und den alten Geppetto aus dem Haifischbauch, und Nick Bowen ersinnt eine Methode, um dem unterirdischen Zimmer, dessen Fenster sich von innen nicht öffnen lassen, zu entfliehen. Doch kaum sind wir mit einem Satz herausgesprungen, erinnern wir uns nicht mehr, wir drehen uns nicht einmal mehr um. Dank der Bilder von Ogasawara aber öffnen sich unerwartet die in Vergessenheit geratenen, geheimen Basislager. Wir stehen vor den Bildern und erleben noch einmal das Flirren der Vorhänge, die im Fenster reflektierenden Schatten, das Licht, das wir im Korridor oder im Durchgang spürten. Gefühlswelten tun sich auf, an die wir schon lange nicht mehr gerührt haben.

 

Ich wende mich der Serie Glaskugel zu, Bildern, auf denen durchsichtige Glaskugeln gemalt sind, in denen sich verschwommen die Landschaften und Lichtverhältnisse spiegeln, in denen sie eingebettet liegen, eingefroren in dem Moment, da sie wegrollen oder sich bewegen könnten. Die durchsichtige Glaskugel existiert dann, wenn jemand sie berührt und bewegt oder das Licht einschaltet und sie so beleuchtet. Sie kann alles spiegeln und überallhin rollen, doch da die Umgebung ihre Existenz bestimmt, symbolisiert sie zugleich ein Leben, das niemals frei ist. Sie steht für die Flüchtigkeit, das Wissen, dass jederzeit etwas ins Rollen geraten und zerbrechen kann. Auf dem Bild Inbetween erinnern die sphärischen Lichtblasen an Personen, die verloren im Bahnhof stehen, sie haben weder ein Ziel, noch wissen sie, wann sie abfahren oder ankommen werden. Sie können kommen und gehen, wie sie wollen, aber vielleicht werden sie auch fortgetrieben, so labil ist ihre Existenz. Auf dem Bild Zwischenraum 8 sehen wir ein Fenster, dessen Ränder mit Kreppband abgeklebt sind. Die Bauarbeiten sind beendet, aber noch ist niemand eingezogen, es ist ein Zwischenraum, ein Zeitraum, in dem die Zeit stillsteht, wie in der Luft hängt. Das große »X« auf der Glasscheibe bringt uns dessen Existenz sanft zu Bewusstsein.

 

Doch viele Menschen haben weder eine Erinnerung an komplizierte Gefühlslagen oder ungewisse Zeiträume noch eine Vorstellung von ihrer von der Freiheit und den damit einhergehenden Mühen geprägten Existenz. Sie glauben, der Mensch stehe aufgrund des technologischen Fortschritts außerhalb der naturwissenschaftlichen Erscheinungen und habe alles unter Kontrolle. Sie halten die Wissenschaft fälschlicherweise für die einzige Wahrheit und sind unfähig, sich mit nicht erklärbaren und vagen Sinneswahrnehmungen, Zufallsereignissen oder widersinnigen Vorkommnissen auseinanderzusetzen. Andererseits ist durch die Entwicklung von künstlicher Intelligenz und virtueller Realität, von alternative facts und deep fake eine Superrealität entstanden, die unsere Vorstellung übersteigt. Wenn dann noch fehlende Toleranz und Vorstellungskraft unser tägliches Miteinander bestimmen, schlägt das unweigerlich aufs Gemüt.

 

Auf den ersten Blick wirken Ogasawaras Bilder schlicht, doch wenn wir die darin zum Ausdruck gebrachten subtilen Gefühlsmodulationen und Ambivalenzen des Seins erkennen, können sie uns als Übung dienen, um neue Zusammenhänge zu entdecken und zu eigenen Lösungen zu finden. Durch wiederholtes Betrachten und Wahrnehmen gelangen wir zu einer Lösung, welche die Naturwissenschaft nicht gewährleisten kann. Entdecken wir beispielsweise auf einem dieser stillen Bilder die darin dargestellten inneren Konflikte und Schwankungen, werden wir, dem allgemeinen Eindruck zum Trotz, alles daran setzen, um gedanklich auf einen neuen Weg zu gelangen. Betrachten wir wiederholt ein Bild, auf dem ein Durchgang oder ein Gefäß dargestellt ist, kann das dazu führen, dass wir uns unserer körperlichen und emotionalen Flexibilität und Stärke bewusst werden. Der Raum in Ogasawaras Bildern ist eng mit unserer Existenz und unseren Gefühlen verbunden, doch dieser gemalte Raum ist bestimmt von unserer Umwelt: der aktuellen gesellschaftlichen Lage, von Politik, Geschichte und Kultur. Wir können aus den Bildern sogar diverse soziale Konflikte herauslesen: Probleme wie die der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, der Rassen- und Geschlechterdiskriminierung, aber wir sehen auch den Widerstand und das Aufbegehren dagegen. Doch Ogasawara weiß, dass es nicht die Aufgabe der Künstler*innen ist, solche Problematiken eins zu eins ins Bild zu setzen. Maler sind nicht Schriftsteller oder Architekten. Sie zeichnen keine Pläne und denken sich keine Geschichten aus, aber vielleicht können die Betrachter vom Bild ausgehend einen Entwurf oder eine Geschichte entwickeln. In der Begegnung mit Ogasawaras Werk erfahren wir, wie Geschichten, welche die Sprache der Malerei und sogar der Kunst übersteigen, die Wahrnehmung als solche sowie eine anders geartete raumzeitliche Ordnung auszudrücken vermögen, und so treten wir, vermittels dieser Schulung unserer Sinneswahrnehmung, mit einer neuen Wirklichkeit in Kontakt.

 

 

© Sayako Mizuta