Noemi Smolik

 

Wie Handlung zum Bild wurde

 

oder fünf Wege, sich den Bildern von Miwa Ogasawara zu nähern

 

 

Prolog

 

„Das Wasser des Langen Flusses füllt den Blick;

Berge unbekannter Gegenden sind bedeckt mit üppiger Vegetation.

Ich eilte Tausende von Meilen; jetzt passen sie alle in den Rahmen eines Fensters.“

Tschen Jü-iho (1090 - 1138)1

 

Miwa Ogasawaras Arbeiten sind seltsame, stille, zurückhaltende, rätselhafte Bilder von intensiver Gegenwart. Das große auf Leinwand mit Ölfarbe im Jahre 2007 gemalte Bild mit dem Titel Bild gehört zu ihren interessantesten Arbeiten. Es zeigt einen Raum, in dem ein riesiger, schwarz eingerahmter Spiegel angebracht ist. Er nimmt den größten Teil der Bildflache ein. Auf seiner Spiegelfläche - oder ist es gar keine Spiegelfläche? - erscheint ein weiterer Raum. Aber wie verhält sich dieser zu dem Bildraum? Gegen die Spiegelung sprechen die schräg in die Tiefe verlaufenden Seitenwände. Ein Bild von einem Bild, das einen Raum zeigt, das vorgibt, ein Spiegelbild zu sein, in Wahrheit aber keines ist. Beziehungen, Parallelen, Querverbindungen füllen die Leere des gemalten Raumes, doch keine dieser Beziehungen scheint für sich eine absolute Gültigkeit beanspruchen zu können. Immer kann sie infrage gestellt werden, stellt sich ein Widerspruch ein - bis ins Unendliche.

Im Jahre 1191 kehrt der Mönch Eisai-zenjis nach Japan zurück, der von China den Zen-Buddhismus mitbringt. Mit ihm verbreitet sich in Japan das Teetrinken. In dieser Zeit wird die Teezeremonie zu höchster Kunst - als eine rituelle Handlung. Man beginnt für die Zeremonie inmitten eines sorgfältig angelegten Gartens kleine Häuschen aus edlen Naturmaterialien zu bauen, die von äußerster Einfachheit sind. Die Wände sind kahl bis auf die Tokonoma-Nische, die für ein Bild, einen kostbaren Gegenstand oder eine Pflanze bestimmt ist. Doch was hat das in Hamburg gemalte Bild von Miwa Ogasawara mit der Kunst der japanischen Teezeremonie zu tun? Einiges.

l WangYao-t'ing, Cinske malirsvi, Prag 2008, S. 89, übersetzt von der Autorin

 

 

Die Fünf Wege Der Annährung

 

„Himmel und Erde verbinden sich in meiner Brust;

Dinge und Erscheinungen haben ihren Ursprung in mir.“

MengTiao (751-8l4)2

2 Wang Yao-ting, Cinske malirstvi, S. 89

 

 

Erster Weg – Ort der Handlung

 

Die japanische Teezeremonie ist eine Kunstform, die geschieht. Es ist eine Handlung, die mit dem Weg durch den Garten zum Teehäuschen anfängt, dem die Begrüßung durch den Zeremonienmeister folgt, die in der Stille der Betrachtung des Raumes und sich im bedächtigen Teetrinken fortsetzt. Diese Handlung ist ein Ritual, dessen einzelne Schritte auf die Lehre von Lao-Tze zurückgehen, der im 6. Jahrhundert vor Christus den Taoismus ins Leben rief. Tao bedeutet wörtlich Weg, wird in die westlichen Sprachen aber auch mit dem Absoluten, dem Gesetz, der Natur, der höchsten Vernunft übersetzt. Lao-Tzes eigenen Worten ist zu entnehmen, dass Tao auch alle diese Bedeutungen in sich trägt: „Es gibt ein Ding, das allumfassend ist. Zögernd nur nenne ich es das Unendliche. Das Unendliche ist das Flüchtige, das Flüchtige ist das Vergängliche, das Vergängliche ist die Rückkehr.“3

Das Unendliche, das Flüchtige und das Vergängliche sind auch die drei Bezeichnungen mit denen das Wesentliche der Bilder von Miwa Ogasawara in Worte gefasst werden kann. Zumal der Bilder, die den Raum zum Motiv haben, wie in dem schon erwähnten Bild als fiktive Spiegelung eines Raumes, die den Blick in einen Gang öffnet, die jeden Horizont in einer unendlichen Tiefe verschwinden lässt, wie in dem Bild Öffnung von 2008. Nie sind die Räume von Miwa Ogasawara geschlossene Räume, immer kommen die Öffnungen vor, deren Tiefe den Blick ins Unendliche führt.

3 Kakuzo Okakura, S.40

 

 

Zweiter Weg - Ort der Leere

 

Der Raum, in dem die Teezeremonie stattfindet, ist bis auf das Bild, ein leerer Raum. Lao-Tze hielt die Leere für das wahrhaft Wesentliche. Nur in einem leeren Raum wird Bewegung, die Voraussetzung jeder Entwicklung ist, möglich. Für Lao-Tze ist demjenigen, der die Gabe besitzt, sich in einen leeren Raum zu verwandeln, in den ein anderer ungehindert hineingehen kann, der wahre Meister aller Lebenslagen. Demnach machen das Wesen eines Raumes nicht die Wände, der Boden und die Decke aus, sondern das Dazwischen, das von ihnen umschlossen wird. Dieses leere Dazwischen ist es, das mit Handlungen gefüllt werden kann.

Bereits im 8. Jahrhundert hatten chinesische Literaturtheoretiker von einem Gedicht gefordert, die Bedeutung der Leere zu bedenken und zwischen den einzelnen Worten genügend Raum für die Fantasie des Lesers zu lassen. Seit dem Aufkommen der Landschaftsmalerei galt diese Forderung auch für die Maler. Der bedeutendste Landschaftsmaler und Theoretiker der Sung-Dynastie Kuo Si (1001 - 1090) rät in seiner Schrift Erhabene Werte der Walder und Flüsse: „Der Maler solle in seinem Werk einen Raum für künstlerische Imagination konstruieren, in den der Betrachter hineinblickt.“4 Die eigentliche Aufgabe des Malers sei es daher, eine Welt auf der Bildflache zu erschaffen, „durch die wir wandern, in der wir uns durch den Blick erfreuen können, einfach eine Welt, in der ziellos umhergestreift und verweilt werden kann.“5

In Miwa Ogasawaras Bildern kommen häufig Wande, Türen, Böden, Fenster oder Vorhänge vor. Sie bilden eine Bühne, auf der die Leere ihren großen Auftritt hat. In ihn hineinzublicken macht das Wesen jeden Ursprungs sichtbar.

4 Wang Yao-t'ing, Cinske malirstvi, S.23, 5 ebenda

 

 

 

Dritter Weg – Ort des Blickes

 

Das Licht, das durch die mit japanischem Papier bespannten Schiebefenstern in das Innere der Teehäuser einfällt, lässt in der Leere des Raumes einen eigenartigen Lichtrhythmus entstehen. Auch Ogasawaras Räume zeichnen sich durch einen Rhythmus aus, vibrieren von Bewegung, die allerdings nicht nur durch die gekonnt eingesetzten Lichteffekte erzielt wird, sondern auch durch einen für den westlichen Blick ungewöhnlichen Raumaufbau.

Die chinesische Malerei, die der japanischen als Vorbild diente, kennt keine zentralperspektivische Konstruktion des Raumes, wie sie sich seit der Renaissance in der westlichen Malerei herausgebildet hat. Der chinesische Maler geht bei seiner Weltbetrachtung nicht von einem Standpunkt aus, den er - wie sein westlicher Kollege - zum Zentrum der Welt erklärt, von dem aus er die vor ihm sich ausbreitende Welt erblickt und mithilfe abstrakter Konstruktionen auf die Bildflache überträgt. Er erklärt sich nicht zu einem aktiven Betrachter, dem die Welt passiv zu Füßen liegt. Vielmehr begibt er sich immer wieder in einen gegenseitigen, da demokratisch geprägten Austausch mit der ihn umgebenden Welt. Das hat zur Folge, dass der Raum in der chinesischen Malerei immer von mehreren Blickwinkeln gleichzeitig festgehalten wird. Diese Konstruktion entspricht auch der ursprünglichen Erfahrung des Raumes; Erst wenn ein Raum durchschritten oder ein Gegenstand umrundet wird, kann seine räumliche Ausdehnung nachvollzogen werden. Die Erfahrung eines Raumes oder eines Gegenstandes bildet sich in der Gleichzeitigkeit verschiedener Blickwinkel.

Das wussten bereits die europäischen mittelalterlichen Maler, die noch frei vom Hochmut des egozentrisch ausgerichteten Renaissance-Menschen in ihrer Malerei den Raum ebenfalls immer von mehreren Blickwinkeln gleichzeitig erfassten. In der osteuropäischen Ikonenmalerei behielt man diese Raumgestaltung bis in das 20. Jahrhundert bei. Die russischen Maler Wassily Kandinskij und Kazimir Malevich setzten dann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diesen Raumaufbau in ihrer Malerei fort. Die aus Japan stammende Malerin greift ihn in ihrer eigenen Malerei wieder auf. Dieser Raumaufbau ist klar in ihrem schon erwähnten Bild zu beobachten. Man findet kein Zentrum, von dem aus der Raum zu erfassen wäre. Immer wieder verleiten neue Winkel den Blick, mal von rechts nach links, mal geradeaus durch die Mitte, mal vom links in die Tiefe, wobei entsprechend der chinesischen Überlieferung der Raum nicht nur von verschiedenen Blickwinkeln, sondern auch in mehreren Schichten übereinander aufgebaut ist. Die erste Schicht öffnet den Raum und scheint nach vorne gekippt zu sein, um den Blick für das Dahinterliegende frei zu halten. Die zweite stabilisiert den Raum und verläuft parallel zum Blick des Betrachters, die dritte leitet den Blick in die Tiefe. Diesen dreischichtigen Raumaufbau von gleitenden Blickwinkeln zeigt wunderbar ein weiteres Bild von Miwa Ogasawara mit dem Titel Im Licht von 2007 - ein unsteter Blick in eine nie endende Tiefe.

 

 

Vierter Weg - Ort des Unvollkommenen

 

Das japanische Teehaus wie auch seine Inneneinrichtung zeichnen sich durch seine asymmetrische Anordnung aus. Nichts darf symmetrisch zueinander stehen. Symmetrie, dieses Grundprinzip der westlichen Architektur und Ästhetik, ist hier regelrecht verpönt. Auch dies geht auf die Tao-Lehre zurück, die den Vorgang - den Weg -, durch den die Vollendung angestrebt wird, betont und nicht die Vollendung selbst. Der Teeraum ist die „Stätte des Unsymmetrischen insofern, als er der Verehrung des Unvollkommenen geweiht ist, wobei mit Vorsatz irgendetwas unvollkommen gelassen wurde, um im Spiel der Fantasie vollendet zu werden“.6 Nur derjenige kann wahre Schönheit entdecken, der im Geiste das Unvollendete vollendet.

Der Taoismus vermeidet die Symmetrie aber nicht nur, weil sie die Vollkommenheit anstrebt, sondern auch weil sie Wiederholung bedeutet. Einheitlichkeit, erzielt durch ständige Wiederholung, sah die Tao-Lehre schon immer als verderblich für die Entfaltung der Fantasie an. Daher zieht sie die Darstellung von Landschaften, Vögeln und Blumen der des Menschen vor, der ja als Betrachter selbst zugegen ist. Im Teeraum, in dem jedem Einzelnen überlassen wird, in seiner Fantasie den Weg der Vollendung zu bestreiten, „ist die Furcht vor dem Sichwiederholen allgegenwärtig. Die verschiedenen Gegenstände der Raumausschmückung müssen so gewählt werden, dass sich keine Farbe und kein Muster wiederholen. Wenn eine lebende Blume darin steht, ist ein Blumenbild nicht zulässig. Benutzt man einen runden Kessel, dann muss die Schopfkelle eckig sein ...“7

Ein Grund, warum die Bilder von Miwa Ogasawara so herausfordernd wirken, ist ihre allgegenwärtige Unvollkommenheit, die dem Betrachter große Freiräume zutraut. Ihre gemalten Raumausschnitte - nie werden ganze Räume gezeigt - fordern dazu auf, sie zu betreten, zu durchschreiten, sich zu verlieren, um sie in der eigenen Einbildung wieder zu einer vertrauten Räumlichkeit neu zusammenzusetzen. Noch herausfordernder sind ihre Bilder, die dem Menschen gewidmet sind. Bühne von 2007 zeigt auf einem hellgrau verfärbten Boden, der leicht nach vorne gekippt die erste Ebene des Bildes füllt, in der mittleren Ebene ein stehendes Mädchen. Mehr nicht. Ist das Mädchen gerade stehengeblieben? Hat es sich vielleicht erschrocken? Und wie sieht eigentlich ihr Oberkörper aus? Und wie ihr Gesicht? Ist es schön? „... Schönheit zu verhüllen, um sie zu entdecken und etwas anzudeuten, was man nicht zu enthüllen wagt.“8 (Kakuzo Okakura) - es gibt keinen treffenderen Kommentar zu diesen Bildern von Ogasawara.

6 Kakuzo Okakura, S. 55, 7 ebenda; S. 70, 8 ebenda; S. 19

 

 

Fünfter Blick – Ort des Ewigen Widerspruchs

 

Taoismus wie auch der Zen-Buddhismus verehren den Widerspruch. Den Polarstern am südlichen Himmel zu sehen, ist die wahre Empfindung eines Zen-Buddhisten. Für ihn lässt sich die Wahrheit nur über das Begreifen von Gegensätzen erlangen. Allerdings von Gegensätzen, die nur als Inhalte unserer eigenen Gedanken zu betrachten sind. Das Relative ist das Absolute für den Taoisten.

Die Tao-Lehre kennt daher auch nicht den Gegensatz von Subjekt und Objekt, der bereits seit den griechischen Anfängen das westliche philosophische Denken prägt. Dem Subjekt steht nicht wie in der westlichen Philosophie das zu betrachtende Objekt als ein von ihm abgekoppeltes, getrenntes Gegenüber, über das, objektiven Urteile gefällt werden können. Im Gegenteil. Der Tao-Anhänger strebt nach direkter Verbindung mit der inneren Natur der Dinge und betrachtet das Äußere nur als Hindernis für ein klares Durchdringen zur Wahrheit. Das Objekt wird durch das Subjekt durchdrungen und umgekehrt. Abgrenzungen gibt es nicht.

Im Werk von Miwa Ogasawara gibt es eine fortlaufende Reihe von kleinformatigen Bildern, die sie „Haut-Serie“ nennt. Vor einem hellen, mal leicht blau, mal rosa verfärbten Hintergrund erscheinen in einem diffusen Licht einzelne Körperteile. Ein Knie, auf das sich eine Hand stützt, in Haut/Knie von 2008. Dann wieder zwei übereinandergeschlagene nackte Füße, deren Zehen sonderbar verkrampft nach oben ragen. Haut/Zehen nennt sie dieses Bild von 2007. Laufend entstehen weitere Bilder, die in einem atmosphärischen, nicht hellen aber auch wieder nicht ganz dämmrigen Raum die Haut der Hände, Beine, des Bauches oder einer Schulter, diese Schutzhülle und gleichzeitig Abgrenzung des menschlichen Körpers zur Erscheinung bringen, zu flüchtigen Erscheinungen, die mit dem sie umgebenden Raum verwoben zu sein scheinen. Die Haut grenzt die einzelnen Körperteile nicht ein, die Übergange sind fließend. Beide, die Körperteile wie der sie umgebende Raum sind von etwas durchdrungen von einer absoluten Gegenwart, die widerspruchsvoller ist als die reine Natur des menschlichen Körpers.

 

 

Epilog

 

„Der christliche Missionar will nur geben, nicht aber empfangen.“

Kakuzo Okakura, 19069

 

Ogasawaras Bilder sind zwar mit der japanischen ästhetischen Tradition eng verwoben, ohne den Einfluss der europäischen und US-amerikanischen Malerei und des westlichen Films sind sie aber auch nicht denkbar. Eigentlich sind sie ein Dialog, ein Austausch, eine ungemeine Bereicherung, die den östlichen Blick um den westlichen und den westlichen um den östlichen erweitert. Die Kargheit der Linie aus mittelalterlichen Bildern findet sich in ihren Bildern wieder, das diffuse Lichtspiel der impressionistischen Malerei genauso wie die leere Einsamkeit aus den Bildern des Amerikaners Edward Hopper. Stark ist die Vorstellungswelt dieser Malerin vom Film geprägt. Das gefahrvoll Geheimnisvolle der Filme eines Alfred Hitchcock oder eines David Lynch mischt sich nicht selten mit dem unheimlichen Zauber des Kultfilmes Blow Up von Michelangelo Antonioni in ihrer Malerei zu einem mitreisenden Stakkato. Und trotzdem. Die über Jahrhunderte das japanische Denken über Kunst prägende Vorstellungswelt der Teezeremonie schwingt immer mit: „Die Zeremonie war ein improvisiertes Drama, dessen Handlung sich um den Tee, die Blumen und die Malerei wob. Keine Farbe, die den Ton des Raumes störte, kein Klang, der den Rhythmus der Dinge beeinträchtigte, keine Bewegung, die sich in die Harmonie eindrängte, nicht ein Wort, das die Einheit der Umgebung brach“10 - in Gegenwart der Bilder von Miwa Ogasawara flüstert man.

 

9 Kakuzo Okakura, S. 14, 10 Kakuzo Okakura, The Book of Tea, S. 19