Fritz W. Kramer

Wartende

Mutmaßungen über ein Bild von Miwa Ogasawara

 

Man kann den Habitus, in dem Miwa Ogasawara sich in ihrer Umwelt bewegt und ihre Wahrnehmungen in Malerei umsetzt, an mehreren ihrer Bilder gleich gut beobachten. Ich wähle dazu – zufällig und vielleicht aus Neigung – ein sonst wenig auffälliges, mittleres Format von 2011 mit dem Titel Wartende. Man blickt auf eine kahle Ebene, grau mit sparsamen Beimischungen von Blau, belebt nur von Pinselspuren und begrenzt von einer eigenschaftslosen Wand oder einem offenen, leeren Horizont; rechts der Mitte sitzt eine junge Frau, nach links gewendet, mit untergeschlagenen Beinen. Die Stille des Raums, die unscharfen Konturen und die Haltung der Figur deuten auf eine Meditation hin – bis man ihre angespannte Aufmerksamkeit bemerkt. Denn die Wartende beugt sich vor, mit hellwachem Blick, und sie stützt die Hände auf die Knie, als sei sie auf der Hut. Das Ineins von Versunkenheit und Wachsamkeit kennzeichnet weitere Bilder, in denen die Malerin dieses Motiv – nach einem Verfahren, das sie auch sonst anwendet – in immer neuen Variationen durchspielt. In einer weiteren Variante, Gerade von 2010, ist dagegen alles Meditative in der Geradlinigkeit einer Beobachtenden aufgehoben. Man kann sagen, dass alle Kinder- und Frauenfiguren der Künstlerin Wartende oder besser Abwartende sind. Aber nirgends wird erkennbar, nach was sie so gespannt Ausschau halten.

Auf der Suche nach dem Sinn dieser intensiven, aber ungerichteten Aufmerksamkeit hilft mir ein Bild von 2005, Familie genannt, mit dem sie im Rückblick ihre Kindheit reflektiert. Es zeigt drei übereinander gestaffelte Figuren, die offenbar drei Generationen repräsentieren: eine ältere Frau in aufrechter, korrekter Haltung, mit einer Handarbeit beschäftigt; eine jüngere, zur Seite gedreht, aber unentschlossen zurückschauend; darüber vollends abgewandt ein Affe; und dass dies das Kind in der Gruppe ist, bezeugt schon der Bildtitel. In Anlehnung an literarische Vorbilder könnte man es »Porträt der Künstlerin als junger Affe« nennen. Noch während des Studiums entstanden, verwendet die werdende Malerin dort noch ein fast reines Rot, vergleichsweise scharfe Konturen in der Tradition westlicher Ölmalerei, doch mit Rekurs auf eine Ikonografie, die sich mir nicht auf Anhieb erschloss. Denn mag man Affen in Afrika oder Indien auch als Wesen von übermenschlicher Körperkraft kennen, in der europäischen Kunst, die sie stets mit Jahrmarkt und Zoo verband, gelten sie als possierliche Tierchen. In diesem Fall führt die Spur aber nach Japan, wo Affen vor allem das Gegenbild streng geregelter, hierarchischer Umgangsformen sind: frei, wild und natürlich, sodass man meinen könnte, die symbolische Selbstdarstellung sei eine Absage an die japanische Erziehung zu Unterwerfung, Konvention und Drill. Die Eltern der Künstlerin waren und sind allerdings Protagonisten einer antiautoritären Pädagogik mit Idealen von Natürlichkeit und individueller Entfaltung durch lebenslängliches Spielen, und deren Emblem könnte der japanisch verstandene Affe durchaus sein. Tatsächlich verlässt Ogasawara als Fünfzehnjährige ihre Heimat, um allein nach Kalifornien, später nach Deutschland zu gehen – also in einem Alter, in dem eine vollständige Integration nur noch in Ausnahmefällen gelingt.

In einem vertrauten sozialen Milieu genügt es, den Blick auf das einzuengen, was man aus Erfahrung als das Wesentliche kennt. Nicht so bei Begegnungen mit Menschen einer anderen Gesellschaft, deren Sprache fremd bleibt, auch wenn man sie beherrscht. Selbst wenn die Umgangsformen so lässig wirken wie in Kalifornien, hegt man spezifische Erwartungen, Vorschriften und Tabus, die für Fremde nie völlig vorhersehbar sind; und Frauen werden subalterne Rollen auferlegt, wenn auch weniger offensichtlich als in Japan. Offenbar hat Ogasawara an der Schwelle zum Erwachsensein in so ungewissen Situationen gelernt, ihre Interessen und Neigungen einzuklammern, sich nicht auf etwas zu fixieren, sondern sich alles nur gleichsam anmuten zu lassen, ohne sich auf eine Rolle festzulegen und von vornherein Wichtiges und Unwichtiges zu unterscheiden. Aus der Gewöhnung an diese Art ungerichteter, eher flottierender Aufmerksamkeit glaube ich, die anscheinend meditative und zugleich angespannte Haltung der jungen Frau in dem Bild Wartende ein Stück weit zu verstehen: Sie identifiziert sich nicht mit dem Geläufigen und bildet sich nicht ein, immer schon zu wissen, wie die Dinge laufen. Ebenso scheint die Künstlerin selbst die Atmosphäre ihrer Bilder grundsätzlich offen und in der Schwebe zu halten.

»Meine Bilder«, erklärt sie, »entstehen aus Wahrnehmung dieser immer komplizierter und unbegreiflicher werdenden Welt; mit allen Problemen und Freuden, die uns Menschen bewegen. Diese Ansprache durch die Welt findet kein Ende.« Wahrnehmungen sind bekanntlich stets von der Art des Wahrnehmens bestimmt, und auch im Zustand flottierender Aufmerksamkeit achtet man zwar nicht auf das, was die zielstrebige Mehrheit für wichtig hält, aber natürlich auch nicht auf alles gleichermaßen. Ihre Stadtlandschaften muten, obwohl sie europäisch gemalt sind, auf schwer benennbare Weise japanisch an, und ihre Interieurs lassen an die karge Betonarchitektur von Kijo Rokkaku denken, mit der sie aufgewachsen ist und deren vollkommen leere Flächen sie für Inszenierungen von Licht und Schatten nutzt. Aktuelle Wahrnehmungen und unwillkürliche Erinnerungen scheinen sich in diesen Bildern zu durchdringen, und der Eindruck, dass sie Déjà-vu-Erlebnisse sichtbar machen, wird noch verstärkt durch die Unschärfe und die Vorliebe für Grau in Grau mit sparsamen Farbbeimischungen, vielleicht sogar durch die häufige Präsenz von Kindern und jungen Mädchen, abwartend an der Schwelle zum Erwachsensein, gemalt wie ein Nachhall des Vergangenen. Was der Künstlerin von der Zeit ihrer Kindheit geblieben ist, sagt sie, »ist der Schatten«.

Ogasawaras Bilder mögen vieldeutig wirken und variieren wie Stimmungen, aber stets breitet sich in ihnen eine Atmosphäre der Stille aus, und stets sind die Räume wohl geordnet, leer oder gut aufgeräumt und makellos sauber – bis zum 11. März 2011. Man wird sich an die Fernsehaufnahmen des Tsunami an der Pazifikküste der Nordinsel erinnern, wie alle Schutzwälle zerbrachen, die dicht besiedelte Ebene hundert Kilometer tief überflutet wurde, zwanzigtausend Menschen ertranken, Schiffe auf Hausdächern abgesetzt wurden und nur eine endlose Trümmerlandschaft übrig blieb, auf unbekannte Zeit radioaktiv verseucht. Den Aufnahmen war anzumerken, dass die Filmer selbst jeden Augenblick weggespült werden konnten, wie sie sich später der unsichtbaren Gefahr der Strahlung aussetzten. Die Saigai, Katastrophe, genannten Bildern machen Ogasawaras Erschütterung spürbar, den namenlosen Schrecken, den die Berichte der Augenzeugen evoziert haben, ebenso die anschließenden Bilder von Trauernden und Verzweifelten, von denen einige fassungslos auf eine unheilvolle See hinaus starren, in trostlosem Grau in Grau. Aber erst drei Jahre nach dem Unglück findet sie einen Weg, eine Konsequenz aus der Saigai-Erfahrung zu ziehen und zugleich ihre Kunst der Stille weiterzuentwickeln. Sie greift die Haut oder Skin genannten Bilder wieder auf, nun aber vertieft, indem sie das Körperliche zur kaum noch erkennbaren Erscheinung verblassen lässt; und sie malt leere Schalen, nun mit radikalerer Unschärfe, sodass die Dinge sich aufzulösen und zu verschwinden scheinen. So wird dem Betrachter bewusst, wie zerbrechlich und flüchtig das Schöne ist – als Appell eine Absage an die Illusion, die Natur sei durch brutale Technik zu unterwerfen, in der Kunst aber ein entschiedener Schritt zur Reife.