Kenjiro Hosaka

Licht im Schatten (oder andersherum): Miwa Ogasawaras Malerei

 

Miwa Ogasawara malt Licht. Licht, das sich zwischen Blättern von Bäumen bricht, oder hartes Licht, das durch das Glas einer Fensterscheibe fällt. Helles, weiches Licht, das durch einen Vorhang scheint, oder das Licht der Leuchtstoffröhren. Derlei Kennzeichnungen sagen über Ogasawaras Werke jedoch wenig aus.

Denn es gibt da noch etwas Anderes: In ihren Bildern wird nämlich das Schwarz – die Dunkelheit, der Schatten – ebenso sorgsam behandelt. Deshalb müsste der erste Satz dieses Textes eigentlich lauten: Miwa Ogasawara malt Licht und Schatten.

Aber die Sache ist nicht ganz einfach. Es muss gefragt werden, ob Licht und Schatten überhaupt eigenständige, verschiedene Dinge sind. Haruki Murakami hat dazu in seinem Roman 1Q84 geschrieben: »Wo Licht ist, muss es auch Schatten geben, und wo Schatten ist, gibt es Licht. Es gibt keinen Schatten ohne Licht und kein Licht ohne Schatten.«

Wenn man diese Bemerkung Murakamis akzeptiert, war der Anfangssatz richtig (für jemanden wie mich zumindest, der in Japan aufgewachsen ist, klingt er plausibel). Weil Licht zu malen auch bedeutet, Schatten beziehungsweise Dunkelheit zu malen. Mit dieser Feststellung sollte man sich jedoch nicht zufrieden geben, da Ogasawaras Malerei nicht bloß die Beziehung zwischen Licht, Objekt und Schatten beschreibt. Aber was heißt das genau?

Vorweg das Fazit: Ogasawara sucht Licht im Schatten. Oder sie löst Licht im Schatten auf (oder andersherum). Eine Raumzeit herzustellen, die keine Dichotomie zulässt, so wie ein Nachthimmel mit Mond, in dem das Dunkle und das Helle gleichzeitig zu spüren sind – Miwa Ogasawaras Malerei versucht genau das zu verwirklichen.

Zum Beispiel das Gemälde Gesicht 8: Hier ist das Geschlecht der Person, die abgebildet ist, nicht erkennbar (auch hier der Wille, Dichotomien zu vermeiden). Die Blickrichtung der Person ist nicht eindeutig nachvollziehbar. Das Ziel ihres Interesses ist verhüllt von Dunkelheit, man erkennt aber, dass die Person etwas ansieht, das außerhalb des Bilds ist. (Vielleicht ist dieses Etwas keine Sache, sondern die Dunkelheit.) Überhaupt ist es unwirklich, dass nur ihr Kopf zu sehen ist. Denn auch wenn unklar ist, wo sich die Lichtquelle befindet, muss sie ja irgendwo sein, und so ist es merkwürdig, dass die Schultern in der Dunkelheit verschwinden.

Nein, das stimmt nicht. Es ist falsch von mir, so zu denken. Eine Lichtquelle muss es nicht zwingend geben. Wenn es eine Welt gäbe, in der Licht in Dunkelheit aufgelöst ist, sähe sie möglicherweise so aus. In der Tat sollten wir diese Malerei ansehen wie jene Person, die das Unsichtbare betrachtet. Wenn man glauben kann, dass Dunkelheit Licht in sich trägt, erschließt sich das Bild allmählich.

Oder das Bild Mit Schatten: Hier sind zwei Figuren, jeweils »mit« ihren Schatten. Jedoch ist die hier abgebildete Welt nicht ganz so konsistent, dass sie eine solche Behauptung zulassen würde. Zu sehen sind nämlich zwei stehende Figuren, die vordere dunkler und die hintere heller, und es ist kaum möglich, den ersten Eindruck zu korrigieren, die eine als Schatten der anderen zu sehen. Da macht es nichts, dass die beiden Figuren unterschiedliche Haltungen eingenommen haben, denn es könnte ja sein, dass verschiedene Zeitebenen in demselben Raum abgebildet sind. Und überhaupt: Gerade die Figur, die die stärkere Präsenz besitzt, sieht mehr wie ein Schatten aus als die andere …

Aber wie ist Licht in die Welt gekommen? Menschen der Vernunft sagen, dass Logos Licht in die Dunkelheit gebracht hat. (»Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht.«) Aber ist das wahr? Warum konnte Logos »Licht« hervorbringen? Wieso heißt es nicht, dass es erst Licht gab und Gott »Es werde Dunkelheit!« sprach? Hätte Logos nicht auch Dunkelheit hervorbringen können? Ist das nicht letztendlich nur eine Logik, eine Ordnung, die der Wunsch des Menschen nach Klarheit (denn der Mensch ist von Natur aus ungenau) hervorgebracht hat? War es nicht in Wirklichkeit so, dass am Anfang in dem Licht und Dunkelheit eins waren, und dass das Licht durch die Sprache herausgeschnitten worden ist?

Nun taucht die Frage auf: Ist das Problem nicht die Sprache selbst? Die Sprache, die Licht und Schatten sauber trennt? Und unser Denken in Dichotomien, die wir hervorbringen, um uns zu beruhigen? Wir erinnern uns an den Hinweis von Lacan über die Umstände, wie Dichotomien entstehen: Laut Lacan treten Gegensätze nicht aus der realen Welt hervor, sondern verleihen dieser »ihren Bau, … ihre Achsen, ihre Struktur, welche sie organisieren, welche bewirken, daß es tatsächlich für den Menschen eine Realität gibt, und daß er sich darin zurechtfindet.«. [1]

Licht und Dunkelheit als verschmolzenes Ganzes zu begreifen: Ein Moment der Malerei von Ogasawara wird es sein, dieses Ziel zu erreichen, das heißt, um die Möglichkeit eines Seins vor Entstehung der Sprache zu ergründen. Es wird gewiss eine Raumzeit sein, die wir unabhängig von Nationalitäts- und Kulturunterschieden irgendwo einmal kennengelernt haben (oder für die Kunst ist es von substanzieller Bedeutung, sich eine solche Raumzeit zu erträumen). Ein bedeutender Dichter Japans, Tamura Ryuichi (1923–1998), verkündete einst in seinem Gedicht »Auf dem Heimweg (Kito)«:

 

Ich hätte keine Sprache lernen sollen.

So sehr lebte ich lieber

in einer Welt ohne Worte,

in der Bedeutungen auf nichts deuten.

Die Tränen in deinen sanften Augen,

die Schmerzen, die von der Zunge deines Schweigens tropfen.

Lebten wir in einer Welt ohne Worte,

würde ich all das bloß betrachten und fortgehen.

 

Etwas »bloß betrachten«, es mit großem Ernst betrachten, ohne es in Worte einzulösen. Eine Malerei erschaffen, die diese Haltung ermöglicht. Meiner Meinung nach trägt das Schaffen Miwa Ogasawaras diese Idee. Und dort ist sie gekennzeichnet von »Emotionen« in einem Stadium, in dem sie sich noch nicht als bestimmte Gefühlszustände wie Freude oder Trauer etikettieren lassen. Mit einer gewissen Zuversicht wird dort zu spüren sein, wie ein bemerkenswertes Moment erfahrbar wird, in dem Licht und Schatten koexistieren.

 

(Übersetzung: Ninako Takeuchi)



[1] Jacques Lacan, Das Seminar, Buch III: Die Psychosen (1955–1956), editiert von Jacques-Alain Miller, übersetzt von Michael Turnheim, Weinheim/Berlin, Quadriga 1997, S. 236.