Wolfgang Welsch

Im Licht

 

Zu schön, um wahr zu sein? – Aber sollte, andererseits, Widerwärtiges solcher Schönheit nicht bedürfen? Die Kunst befindet sich in der Wirklichkeit, tritt ihr aber auch gegenüber. Oder anders gesagt: Die Wirklichkeit hat viele Schichten – hohe und niedrige, basale und ephemere, politische und ästhetische, humane und inhumane. Welche stehen heute im Vordergrund? Politisch und medial zum einen solche der Gleichförmigkeit, zum anderen die von Überdrehtheit und Terror; lebensweltlich Konsum und Ereigniseuphorie auf der einen und Leid und Vertreibung auf der anderen Seite; ästhetisch Schock und Sensationslust einerseits und diverse Spielereien andererseits; moralisch vor allem Betroffenheit bei faktischer Gleichgültigkeit. – In dieser Situation kann die Kunst verschiedene Optionen verfolgen: die der Angleichung oder des Widerstands, der marktgängigen Reprise oder der störrisch behaupteten Innovation, der ironischen Verfremdung oder der raffinierten Mischung kultureller Codes. Es gibt aber auch andere Wege. Von einem – besonders bedeutsamen – ist hier zu sprechen.

Unscheinbare Gegenstände: Vorhänge, Neonlampen, Schalen, Bahnhöfe, menschliche Körper, geometrische Räume, Landschaften. Aber all dies ist lebendig – gerade auch die anorganischen Gegenstände. Das Licht der Neonröhre breitet sich nach unten aus wie eine Wolke oder ein Schoß, und je mehr es sich ausbreitet, umso fülliger wird es – füllig an Intensität, Wärme, und an Sanftheit, in die man sich einschmiegen möchte. Oder die Schalen (das aufnehmende, nicht sich verströmende Gegenstück zu den Neons): Sie reproduzieren sich selbst, werfen Schattenbilder ihrer Rundung, ihres Körpers, ihres Standes; und ihre Öffnung ist gefüllt: mit Lichtreflexen, Schattenspielen, Milchlicht. Und alle Gegenstände atmen.

Aber da ist noch mehr. Alles entfaltet sich in einer Atmosphäre des Lichts und der Schönheit. Oder vielmehr – denn das Licht ist ja nicht vorgegeben, ist nicht Beleuchtungslicht, sondern entsteht gleichsam aus den Dingen – alles steht im Licht, ist ein Phänomen des Lichts. Dabei gehen das Licht und die Dinge mit- und aneinander hervor. Sie sind verwoben, verschwistert, verschränkt. Diese Gemeinsamkeit von Licht und Dingen begründet die Schönheit dieser Bilder.

Aber Schönheit: Ist das nicht ein Anachronismus, ein out-of-date? Ach ja, die Medien und viele Teile der heutigen Kunst bevorzugen statt des Schönen das Outrierte, das Fetzige, den ultimativen Kick – der dann, wie bei allen Drogen, immer weitere Steigerungen erfordert, bis hin zum Leerlauf des Immergleichen. Und die moderne Kunst hat selber oft genug dem Schönen abgeschworen. Die Futuristen mochten noch anstelle der geläufigen Schönheit etwas anderes, das für den etablierten Geschmack geradezu hässlich war, als schön propagieren: das Motorengebrüll eines Rennwagens – sie nannten es »Schönheit der Geschwindigkeit«.[1] Aber Barnett Newman erklärte rundweg, »der Impuls moderner Kunst« sei »der Wunsch, Schönheit zu zerstören«[2] – und etliche sind ihm in dieser rabiaten Auffassung gefolgt, bis auf den heutigen Tag. Anscheinend waren sie blind genug, nicht zu sehen, dass Newman wunderschöne Bilder malte und dass seine Polemik gegen die Schönheit nur der gängigen Schönheit gegolten hatte, wogegen er für die übergroße Schönheit des Erhabenen eintrat. Man muss verblendet sein, nicht zu erkennen, dass Schönheit (von unterschiedlicher Art) immer ein Ingredienz der Kunst war, dass Kunst zu einem guten Teil darin bestand, neue Arten von Schönheit zu erfinden und vor Augen zu bringen.[3] Hatte nicht Leonardo da Vinci, der das Auge als unseren »vornehmsten Sinn« bezeichnete,[4] weil »sich die Schönheit der Welt in ihm widerspiegelt«,[5] zugleich um die Verschiedenheit der Weisen gewusst, wie Schönheit sich zeigt und zu vergegenwärtigen ist? War nicht Dürer, dessen lebenslange Suche der Schönheit galt, an ihrer Vielgestaltigkeit und Unfasslichkeit zwar fast verzweifelt (»Was aber die Schönheit sei, das weiß ich nit«) – um dann doch ein Lehrbuch der Schönheit zu hinterlassen (Vier Bücher von menschlicher Proportion, 1528)? Will man einem der beiden oder den Abertausenden ihrer Nachfolger nachsagen, dass sie ob der Vielgestaltigkeit und Undefinierbarkeit von Schönheit das Streben danach aufgegeben hätten? Ganz im Gegenteil! Was so vielgestaltig und unfestgelegt ist, reizt gerade das künstlerische Talent. Hat sich Frenhofer nicht nach einer neuen, noch nie gesehenen Schönheit verzehrt? Oder hat Dubuffet, der allzu generös erklärte, Schönheit spiele für ihn keinerlei Rolle,[6] nicht gleichwohl Lithografien von fast überirdischer Schönheit geschaffen (Cosmographie, Sol céleste, etc.)? Und könnte man Mondrian, Turrell oder Richter und zahllosen anderen Künstlern gerecht werden, ohne von Schönheit zu sprechen? Kurzum: Schönheit ist ein permanentes Pensum der Kunst. Nur: Worin sie besteht, das ist immer neu zu finden, zu verhandeln, zu erahnen.

Allein im Gegenzug gegen eine Tendenz ist die Aversion gegenüber Schönheit im Recht: gegen die marktgängige Besetzung des Schönen durch Reklame, Medien und Verkaufskunst, wie sie heute grassiert. Aber das Schöne war immer etwas anderes als das Hübsche, das Kosmetische, das Eingängige, das Halbschöne von gestern. Wirkliche Schönheit ist zu entdecken, hervorzubringen, neu zu erfinden.

Und damit zurück zu Miwa Ogasawara. Oft arbeitet sie mit Spiegelungen. Aber was spiegelt sich da? Nichts, jedenfalls kein bestimmter Gegenstand. Die Reflexe sind vielmehr Teile, Elemente des Bildes selbst, sind innere Spiegelungen, nicht Einwürfe von außen. ›Reflexion‹ bedeutet eben nicht nur physische Spiegelung, sondern auch mentale Überlegung, Gedankenarbeit. Manchmal ist einem tatsächlich, als würden diese Bilder denken – sich bespiegeln, sich über innere Spiegelungen aufbauen. Nur dass die Bildneuronen nicht feuern, sondern sanft schwingen, strahlen und sich untereinander verweben. Manchmal ist das Ergebnis diffus, manchmal messerscharf – aber immer konsequent. Wie beim Denken, das mal träumerisch, mal höchst präzis sein kann. Ja, die Künstler, die zählen, sind allesamt hochreflektiert (nur nicht, Gott bewahre, akademisch-diskursiv, sondern künstlerisch-produktiv). Und stets sind es die Hell-Dunkel-Modulationen, die Lichtformen, welche Körper und Struktur der Bilder ausmachen. Das Licht ist – noch einmal – nicht Beleuchtungslicht (von außen), sondern gleichsam fleischliches Selbstlicht (von innen). Es hat Körperlichkeit, ist mit den Gegenständen im Bund, leuchtet aus sich, ist (wie alle Lebewesen) ein Selbstbetreiber und Selbstverstärker. Es expandiert, aber es hegt und schont auch. Es verstrahlt nicht, sondern gewährt und respektiert.

All das gehört zur Schönheit dieser Bilder. Soll man diese Schönheit unscheinbar nennen? Prangend ist sie gewiss nicht. Vom Marktgeschrei der Schönheit in Medien und Werbung ist sie meilenweit entfernt. Sie ist zart, sanft, wispernd, intim, verführerisch – und doch gerade dadurch so einnehmend, beglückend und unwiderstehlich. Sie nimmt nicht gefangen, sie lädt ein. Sie ist voller Freundlichkeit und Menschlichkeit. Diese Schönheit mag uns an Kindheitserlebnisse, an glückliche und friedliche Zeiten oder an jene seltenen Stunden erinnern, in denen unsere Existenz heil war oder erfüllter wurde. All das geschieht ohne Pomp und Trara, ohne technologisch-mediale Aufrüstung, ohne den Hype der Kunstschreihälse. Diese Schönheit zeigt eine Alternative zur medialen und konsumistischen Prettiness. Sie ist anders, ist eine genuin künstlerische Schönheit. Was auch heißt: Sie ist authentisch (und eine Schönheit, die nicht authentisch wäre, wäre ohnehin keine, sondern bloß Prettiness).

Und noch etwas: Diese Schönheit hat das Dunkle nicht ausgeblendet, nicht negiert; sie integriert es vielmehr, zeigt es, ist mit ihm im Bund. Das Licht ist nicht ohne Schatten und umgekehrt (wie viel Schwarz ist doch immer wieder in diesen Bildern verarbeitet). Es gibt auch Bilder, die sich direkt dem Grauenvollen zuwenden. So drei Landschaften (saigai). Sie revozieren »Fukushima« – weniger das Geschehen als den psychischen und mentalen Komplex, der mit diesem Namen verbunden ist. Eine Reminiszenz an das Herkunftsland, eingebettet in eine künstlerische Sprache, die ihrerseits (aber sehr subtil) das Herkunftsland anklingen lässt, wo die Ästhetik des Lichts und die des Schattens eins sind.[7]

Bisher war die Rede vom Licht, von Gegenständen, von Spiegelungen, von Schatten. Aber nicht vom Menschen. Kommt er nicht vor? Schon, nur nicht immer. Miwa Ogasawara ist weit davon entfernt, den Menschen zum Mittelpunkt zu machen.[8] Manchmal geht ihr Arbeitsprozess gerade dahin, eine Situation, in der zunächst Figuren vorkamen, am Ende ganz ohne Menschen zu gestalten (so die Entwicklung von Gang zu Hallway). Und in vielen Bildern kommen zwar menschliche Artefakte, aber keine Personen vor. Ein andermal sind die Menschen erst auf den zweiten Blick, als Schatten zu erkennen (Reisende). Aber dann gibt es doch auch Bilder, die nur den Menschen zum Thema haben, und das – schier klassisch – in Form von Akten, die zwar nicht den ganzen Körper zeigen, sondern nur Teile: Beine, Rücken, Arme, Hände, die aber doch ganz der Schönheit dieser Körper, der Haut, der menschlichen Form gewidmet sind.

Ein Betrachter verspürte dabei ein Unwohlsein: Sind diese Darstellungen makelloser Körper nicht allzu sinnlich, verführerisch, sind sie nicht nahe an Pornografischem? Mon Dieu – zensieren wir bald auch Fra Angelico, Canova, Ingres etc.? Nur weil in unserer Informationswelt zurzeit der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen derart hoch im Kurs steht? Ach, diese soziale Blindheit, die sich so sehend wähnt – bis sie ihre Augäpfel demnächst nach anderem verdrehen wird. Augen auf, Freunde, hier und anderswo! Miwa Ogasawara vergegenwärtigt mit malerischen Mitteln die Sanftheit der Haut, die androgyne Architektur eines Rückens, die grazile Fertigkeit einer Hand, die Zartheit einer Brust. Kennen wir das nicht? Wir haben es allenfalls vergessen oder haben uns versagt, es in seiner Schönheit und Unschuld wahrzunehmen. Umso mehr kann es uns faszinieren, wenn wir es, wie hier, nicht lasziv und reißerisch, sondern in seiner milden Schönheit vor Augen geführt bekommen. Ja, eine solche Malerei ist nicht schlechthin autonom, sondern vergegenwärtigend. Mit malerischen Mitteln sensibilisiert sie uns aufs Neue für die Schönheit des menschlichen Körpers, in der zugleich eine innere Schönheit zum Ausdruck kommt. Der gute alte Aristoteles (der erste Ästhetiker, der die Kunst liebte und ihr wundervolle Beschreibungen widmete) hätte seine Freude daran gehabt: Kunst gibt das Wirkliche wieder – aber nicht einfach wie es gemeinhin erscheint, sondern besser und schöner, nämlich so, wie es ist, wenn es ganz es selbst sein kann – ungetrübt von scheelem Blick und mediokren Erwartungen.

Es ist mutig, in unserer Welt der Aufgeregtheit und des Schocks solche Schönheit zu präsentieren, unserer Gesellschaft diese Gegenmöglichkeit vor Augen zu halten. Diese Kunst denkt größer von uns, als unsere Meinungsführer – und allzu oft auch wir selbst – es tun. Welche Wohltat.

 

 



[1] Filippo Tommaso Marinetti, Erstes Manifest des Futurismus [1909], in: Marinetti e il futurismo, hrsg. von Luciano De Maria (Mailand: Mondadori, 1973), S. 3–9, hier S. 6 [4].

[2] Barnett Newman, »The Sublime is Now«, in: Tiger’s Eye, Bd. 1, Nr. 6, Dezember 1948, S. 51–53, hier S. 52.

[3] Vgl. Wolfgang Welsch, »Wiederkehr des Schönen?«, in: ders., Blickwechsel – Neue Wege der Ästhetik (Stuttgart: Reclam, 2012), S. 116–132.

[4] Leonardo da Vinci, Trattato della pittura [Nachdruck des Codex Vaticanus Urbinas 1270] (Neuchâtel: Le Bibliophile, o. J.), S. 23 [23].

[5] Ebd., S. 20 [20], ähnlich ebd., S. 19 [19]. An anderer Stelle: Das Auge »umfasst die Schönheit der ganzen Welt« (ebd., S. 23 [24]).

[6] Ebd., S. 22.

[7] Vgl. Jun’ichiro Tanizaki, Lob des Schattens: Entwurf einer japanischen Ästhetik [1933] (Zürich: Manesse, 1987).

[8] Neben all den ästhetischen Genüssen hat mich auch dies von Anfang an ihrem Werk fasziniert. Vgl. zu dieser Kongruenz: Wolfgang Welsch, Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie (Berlin: Akademie, 2011) und Homo mundanus – Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne (Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2012).